On Südpol

15 JAHRE SÜDPOL: Philippe Bischof im Gespräch

Mo, 18.09.2023
Von Südpol Kommunikation

Anlässlich unseres 15. Geburtstags haben wir ehemalige Mitarbeitende und Weggefährt*innen zum Gespräch eingeladen und mit ihnen über ihre Zeit am Südpol gesprochen.

Während der Jubiläumssaison werden an dieser Stelle jeden Monat unterschiedliche Menschen von ihren ganz persönlichen Erlebnissen und Erfahrungen erzählen.

Die Gespräche führte Carmen Bach, Co-Verantwortliche Kommunikation.

 

«Wir gehen zusammen einen Weg ins Unbekannte»

 

Wann und in welcher Funktion hast du im Südpol gearbeitet?

 

Wenn ich mich richtig erinnere von Februar 2008, neun Monate vor der Eröffnung, alles war noch Betonrohbau, noch nicht einmal der Name des Hauses war endgültig definiert. Geblieben bin ich bis Anfang 2011, weil ich dann als Leiter der Abteilung Kultur in Basel begonnen habe. Drei volle Jahre also.

 

Und du warst Geschäftsführer und künstlerischer Leiter in einer Person?

 

Ich habe den Titel bekommen, der in der Stellenausschreibung stand. Es gab damals weder ein Team, eine Struktur, noch ein Budget. Es gab auch keine klare Betriebs-Idee. Was ich nicht negativ meine, aber es gab kein Konzept mit einem überprüften Bedarf entsprechend der lokalen Szene, dem Publikum oder den anderen Institutionen. Es gab einen berechtigten Druck, politischer und kultureller Art, einen Ort für die Freie Szene anzubieten, und der wurde umgesetzt in ein Gebäude, in ein Bauprojekt. Es gab nur die vage Vorstellung eines Kulturortes. Nach meiner Wahl wurde mir dies nach verschiedenen Gesprächen rasch bewusst. Und dann fragst du dich: Welche Rolle kannst du übernehmen? Ich habe alleine begonnen, nach und nach entstand ein Team, das immer mehr Aufgaben übernahm.

 

Wie bist du zum Südpol gekommen?

 

Es war ein Anruf aus dem Umkreis Luzern: Wir brauchen jemanden, der das macht und wir haben an dich gedacht. Ich hatte zu dem Zeitpunkt noch nie von dem Projekt gehört. Ich kannte Luzern ein wenig: Theater, Schüür, Boa. Dann hat mir noch jemand geschrieben: Der Südpol wäre was für dich. Daraufhin habe ich Südpol Luzern gegoogelt und nur ein paar kleinere Zeitungsartikel gefunden, die sofort die Probleme in den Vordergrund gestellt haben. Das hat mich fasziniert, diese komplizierte Projektentstehung, auch weil es als Nicht-Luzerner natürlich leichter war, das als Ausgangslage anzunehmen, einfach mal so zu nehmen. Als nicht von der Vergangenheit der Boa Betroffener siehst du sofort Fallstricke und Schwierigkeiten, aber auch die Möglichkeiten und Potentiale. Ich wusste instinktiv, da gibt es was zu holen, auch wenn das schwierig sein wird. Und zwar nicht zu holen für mich, sondern für das Projekt an sich. Das war spürbar, nicht zuletzt, weil ich Luzern in seiner politischen Funktionsweise schon recht gut kannte und auch die Kulturverantwortlichen, mein Bruder war damals schon Direktor des LSO. Ich habe Luzern immer als sehr sozialen Ort erfahren, die Leute reden gerne miteinander, sie gehen gerne Bier trinken, es ist leicht, da reinzukommen, verglichen mit anderen Städten. Ich dachte, irgendwie geht da schon was.

 

Aus welcher Arbeits- und Lebenssituation kamst du damals?

 

Ich komme ja vom Theater, habe sehr lange in verschiedensten Funktionen Theater gemacht, publiziert, geschrieben, inszeniert, geleitet. Ich hatte noch ein Kulturmanagement-Studium in Basel angehängt und wollte später in die Kulturpolitik. Ich wusste, ich will nicht mehr selbst Theater machen, keine Kunst mehr produzieren. Wenn du trotzdem Kunst und Kultur liebst, dann ist die andere Seite jene der Rahmenbedingungen. Ich verspürte eine grosse Motivation, diese mitzugestalten. Im Grunde ging es mir drum, einen Raum und Rahmen zu schaffen, in dem Kreativität und Begegnung möglich waren. Und dann habe ich angefangen mit Beteiligten zu reden. Die kulturengagierten Leute in Luzern haben mich fasziniert und die vielen Szenen: Grafik, Comic, Musik, Theater, elektronische Musik etc. Eine der allerersten Programmentscheidungen war der Flohmarkt, weil ich wollte, dass da etwas geschieht unter ganz unterschiedlichen Menschen, als sozialer Moment, der nicht Kunst ist, aber eine bestimmte Form von Alltagskultur.

 

Du hast in deinem Leben viele Kulturhäuser kennengelernt. Was macht den Südpol einzigartig?

 

Was ich von Anfang an sehr bemerkenswert fand, war das völlige Missverhältnis zwischen den räumlichen Dimensionen des Südpols und der Grösse der Stadt. Der erste Gedanke war: Das wird Luzern nie füllen können. Weder mit Publikum noch auf der Macher*innen-Seite. Das fand ich aber sehr reizvoll. Es gab zudem viele Negativ-Vorstellungen vom Südpol, aber kaum eine konstruktive Herangehensweise. Alle wussten, was der Südpol nie sein wird. Ich habe mir gesagt: Du musst eigentlich nur gutes Zeug machen mit guten Leuten, der Rest kommt nach und nach. Dann gibt es immer noch Moserer, aber die kommen dann trotzdem schauen, weil sie ja mosern wollen – und sie kamen auch zunehmend. Das habe ich in der Form an keinem anderen Kulturort so erlebt. Das war ein Haus ohne Tradition, etwas völlig Neues. Das war weder von der Szene gewollt, noch war es aus dieser entstanden, es war einfach politisch gesetzt: Eine Art Topdown-Satellit. Im Wissen darum habe ich mich auf die Schönheiten und Chancen des Projektes zu konzentrieren versucht. Ich wusste, wir haben nur sehr wenig finanzielle Mittel, also ist meine einzige Chance, begeisterte Leute vor Ort und von ausserhalb zu gewinnen, von deren Potential wir überzeugt waren und denen wir Raum bieten konnten, und den Charme des Neuen. Wir konnten ihnen ehrlicherweise sagen: Du kannst hier eigentlich alles ausprobieren. Wir gehen zusammen einen Weg ins Unbekannte. Nach dem Motto: Du kannst jede Woche scheitern, wenn dir das persönlich nichts ausmacht.

 

Also war der Südpol ein Freiraum für dich?

 

Auch, aber es war vor allem ein kulturpolitischer Hebel. Ich konnte als Nicht-Luzerner in der Stadt ziemlich frei sagen, was ich wollte. Aufgrund meines Backgrounds und meiner breiten Erfahrung konnte ich Themen und Anliegen in die Kulturpolitik tragen oder auf Podien zur Sprache bringen. Wir konnten zahlreiche Institutionen zu Veranstaltungen im Südpol bewegen, weil sie gemerkt haben: Die sind ja viel cooler als erwartet. Oder zum Beispiel in der Gastronomie, da haben wir ein Experiment gewagt: Moritz Stiefel hat eine Zeit lang auf einem aussergewöhnlichen Niveau gekocht, eine alternative Haute Cuisine-Kantine gewissermassen, das hat sich rumgesprochen. Plötzlich wollte ein renommiertes Schweizer Unternehmen ihr Jahresessen bei uns machen. Mit der Miete dieser Veranstaltung konnten wir drei Konzerte finanzieren. Diese Mischkalkulation, das habe ich davor und danach in der Form so nie wieder praktizieren können.

 

Die Architektur des Hauses, die unterschiedlichen Räume, lassen diese Diversität ja auch zu. Hattest du einen Lieblingsort?

 

Die letzten Treppenstufen vor der Tür vom Büro in die Shedhalle, mit Blick über die verschiedenen Eingänge und Räume. Wenn man die Tür öffnete und einem die Lebendigkeit der Leute in der Shedhalle entgegenkam. Vor einer Veranstaltung die Türe zu öffnen und die Leute warten zu sehen, auch wenn es manchmal ganz wenige waren, das Stimmengemurmel und die Erwartungen zu spüren, die im Raum standen, das hat mich immer sehr glücklich gemacht.

 

War der Südpol auch ein «Zuhause»?

 

Ja und nein. Als Ort des Engagements ja. Aber zugleich ist der Südpol ein Kulturhaus aus einer alten Zeit, obwohl es nicht alt ist, aber das Denken dahinter ist überholt und kommt aus dieser Euphorie der «Kultur der Machbarkeit»: Du musst da einfach eine grosse neue Infrastruktur hinstellen, dann wird das Ding schon gefüllt werden. Der Markt wird das erledigen, eine letztlich ziemlich kapitalistische Logik. Das war für die Dimension der Freien Szene Luzerns völlig unrealistisch. Was soll die freie Szene in die riesigen Räume reinstellen ohne entsprechende Fördermittel? Das wurde falsch berechnet.

 

An welche Menschen und Momente erinnerst du dich gerne?

 

Die grösste Erinnerung sind die irrsinnig vielen Menschen, denen ich begegnet bin. Ich habe vermutlich in meinem Leben nie wieder so viele Leute in so kurzer Zeit gesprochen und zu überzeugen versucht. Obwohl das ja auch heute noch mein Job ist, aber das war wirklich aussergewöhnlich, ich kannte auch kaum jemanden. Ich denke an Marion Baumgartner, meine erste Mitarbeiterin, die ich kannte aus der Theaterwelt. Nach etwa drei Monaten mussten wir über die Bücher, Marion erstellte ein Organigramm und dann kam sie zu mir und sagte: Ich habe gerade meine Stelle abgeschafft. Mich braucht es gar nicht mehr. Und sie ging dann auch, was ich unheimlich ehrlich und mutig fand. Das ist mir unvergesslich geblieben. Und dann kamen Daniela Krienbühl und Eva Heller, die auch ganz wichtig waren für die Team- und Strukturbildung, später Peter Göhler, Marc Schwegler und so weiter. Auch der Architekt Andreas Moser blieb wichtig, nach der Eröffnung. Ich könnte viele nennen, es war ein toller Teamgeist. Wir haben ja quasi alles selbst gemacht, inklusive putzen. Dass alle alles gemacht haben, das war die grösste Erfahrung. Und dann gab es viele magische Abende, mit GobSquad, mit Milo Rau, mit Sophie Hunger, mit Marie-Caroline Hominal, mit Jessica Huber, mit Tabea Martin und Matthias Mooji, mit Bonobo und und mit vielen anderen Künstler*innen, die ich nicht alle nennen kann.

 

Du warst in Kontakt mit dem Architekten des Hauses, inwiefern warst du in den Bau involviert?

 

Ich habe nur noch minimal mitgesprochen beim Bauprojekt. Einige Betriebsfehler waren leider schon gemacht, aber der Architekt war sehr hilfsbereit. Mein erster Besuch mit Andreas Moser auf der Baustelle war im Rohbau mit Helm, und ich fragte danach: Darf ich dir eine Liste machen? Es gab dann ein paar Ideen für Korrekturen, die ich der Stadt vorstellen konnte; das war sein Verdienst, da konnten wir noch einiges durchbringen. Die Grundstruktur war aber natürlich längst gebaut. Akustisch konnten wir noch viel verbessern, da wurde nachkorrigiert, oder zum Beispiel konnten wir noch Tanzböden einbringen. Und bei der Inneneinrichtung konnten wir dank Sponsoren korrigieren.

 

Was hast du am Südpol gelernt, was dir heute noch weiterhilft?

 

Ruhig zu bleiben, überzeugt zu bleiben und Leute zu überzeugen, auch wenn es Widerstand oder Ungewissheit gibt. Jeden Tag. An die Sache zu glauben und ehrlich und selbstbewusst darüber zu kommunizieren. Den Willen zu bilden, ein geschlossenes Team zu sein. Das funktioniert nur, wenn alle mal den Besen in die Hand nehmen oder Bier zapfen, wenn Not an der Person ist. Es ist nicht nur cool ein gutes Team zu sein, sondern einfach auch notwendig. Und ich habe gelernt Grenzen zu ziehen, in alle Richtungen. Wenn du alles machst, was Geld bringt, dann ist es sehr leicht, aber es gibt eine Ethik und eine Programmation, die klar sein müssen. Wir hatten sehr lukrative Angebote, die wir abgelehnt haben, weil wir unsere Seele nicht verkaufen wollten. Das durfte aber auch nicht auf die andere Seite ausschlagen, wenn Freunde für zwei Wochen umsonst bei uns proben wollten, dann haben wir auch nein gesagt. Das war eine gute Schule, bei all den Abwägungen positiv und fair zu bleiben. Und was ich auch noch gelernt habe: Wie «erkenne» ich eine Stadt und mache ein Programm, das nicht anbiedernd ist, das sie fordert und trotzdem mit ihr zu tun hat? Kontextlesen, die Nase in den Wind halten und ein Gespür für das Umfeld bekommen. Das hat mich schon sehr herausgefordert und für alles Nachfolgende geprägt.

 

Was verbindet dich heute noch mit dem Haus?

 

Ich habe mich nach meinem Abgang ganz bewusst komplett verabschiedet, ich finde nichts schlimmer als: «Der Alte ist irgendwie immer noch da». Der Abschied hat auch emotional Zeit gebraucht, denn es war eine tolle Zeit, aber die ist jetzt auch vorbei und ich bin weg. Wenn ich mich nach meiner Zeit am Südpol kulturpolitisch eingebracht habe, ging es darum, Luzern als Kulturstadt im Ganzen zu stärken.

 

Wenn der Südpol ein Mensch wäre, was würdest du ihm mit auf seinen Weg geben, welchen Ratschlag würdest du ihm für seine nächsten 15 Jahre geben?

 

In meinen Augen ist der Südpol ein Mehrgenerationen- und Mehrspartenprojekt. Also würde ich sagen: Als Mensch sollte der Südpol seine verschiedenen Alter und Schichten zeigen. Die faszinierende Mischung für mich war: Luzerner Theater, Musikschule, Brass Bands. Profis und Laien, unterschiedliche Altersstufen. Das ist ein enormes Publikumspotenzial. Das war immer meine Vision, ein offener Ort für viele und zugleich dezidiert für zeitgenössische Kunstproduktion. Wo performative «contemporary art» entwickelt, gedacht, gespielt und gezeigt wird. Und um das konsequent zu entwickeln, dafür braucht es eine halbe Million mehr Subvention von der Stadt und einen langen Atem aller Beteiligten. Also muss es ein Mensch sein, der Ausdauer hat und Hartnäckigkeit.

 

Foto: Anita Affentranger